Einführung
“Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch ! - Und darum wisse: Ich verurteile dich zum Tode des Ertrinkens !” - diese Worte bekommt in der Erzählung “Das Urteil” der erwachsene Sohn vom Vater zu hören. Diese zwei Sätze, die sich dem Gedächtnis einprägen, die keinen ruhigen Schlaf zulassen, sind für mich zum Ausgangspunkt eines Versuchs, das Wesen des Kafkaschen Schreibens zu ergründen, aber auch seine Persönlichkeit zu erforschen, geworden. Noch besser habe ich ihren Sinn beim Erforschen des Lebenswegs von Dora Diamant zu verstehen gelernt. Als ich über sie schrieb, versuchte ich, sie zu erblicken, zu erhören, Gestalt werden zu lassen. Wer war sie in Wirklichkeit ? Und warum hat sie ihre Tochter Franziska als Opfer dargebracht ? Auf einmal fing sie an, selbst zu sprechen. Ich begann, ein Stück mit Dora in der Hauptrolle zu schreiben. Das Haus nicht verlassend, kaum mit jemanden sprechend, fast nichts essend schrieb ich. Mein Entsetzen steigerte sich. Ich wusste selbst nicht, was mit mir los war. Aber ich schrieb weiter, als wenn ich versuchte, mich von ihrem Gespenst zu befreien. Auf diese Weise ist aus den zwei Sätzen aus dem Urteil ein Theaterstück entstanden, mein vierter [nach Auf dem Zweig (Na gałęzi), Biographie (Biografia), Achtung – böse Hunde! (Uwaga złe psy!)] Theaterversuch. Ich fasste den Entschluss, Die Gekennzeichneten in das Buch Das Gepäck des Franz. K. mit aufzunehmen, weil sich beide Texte vervollständigen. Als Journalist habe ich meine Einbildungskraft gezügelt, als Dramenverfasser konnte ich mich nicht davon zurückhalten. Als Journalist bin ich auf die Ereignisse aus Doras und Franz' Leben zurückgekommen, ich habe auch versucht mir die simpelsten Fragen zu stellen: War sie noch jemals nach Franzens Tod glücklich ? Was für Träume hatte sie ? Warum hat sie ihren Geliebten niemals aus dem Gedächtnis tilgen können ? Warum wollte sie ihm ihr Kind schenken ? Warum bedeutete das Leben den Tod für sie ? Die einfachsten Fragen sind aber in Wirklichkeit die schwierigsten. Das hat mich meine Berufserfahrung gelehrt. Als Dramatiker habe ich mich bemüht, die Leerstellen auszufüllen, das zu erdichten, was niemals stattgefunden hat, Szenen des Alltags zu schaffen, das Heimverhältnis zwischen Dora und Franz zu fokkusieren, und diese beiden schließlich zum Sprechen zu bringen, und das über die wesentlichsten Dinge. “Du hast mich geboren, um mich IHM zu schenken ?” - fragt Franziska in meinem Stück. Aber hat sie sich überhaupt jemals überwunden und ihr diese Frage gestellt ?
Remigiusz Grzela
Übersetzt von Konrad Kurzacz
Die Gekennzeichneten
EIN DRAMA IN ZWEI AKTEN
April 2003
Alle im Stück dargestellten Ereignisse basieren auf realen Vorkommnissen
STIMME und SIE – dieselbe Person, eine 50-jährige Frau, dichtes dunkles Haar
TOCHTER - ein junges, 20-jähriges Mädchen
PSYCHOLOGIN – eine 40-jährige Frau
JOURNALIST – ein junger Mann
ERSTER AKT
ERSTE SZENE
Anfang der 50-er Jahre. Im Studio eines Radiosenders. JOURNALIST und PSYCHOLOGIN vor einem großen Mikrophon.
JOURNALIST. Ich glaube, wir müssen das Schuldproblem aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Ist es nicht so, dass manche Menschen Schuldgefühle zum Leben brauchen ? Ich kenne solche, die als Geißler geboren sind. Sie verspüren das Bedürfnis, schuldig zu sein. Was sagen Sie dazu ?
PSYCHOLOGIN: Selbstverständlich lässt sich das auf die Kindheit zurückführen. Die Mädchen werden dafür schuldig gemacht, weil sie nicht als Jungen geboren wurden. Die Jungen, weil sie nicht gut genug sind. Ein Kind, dass in einer durch negative Werte bestimmten Welt erzogen wird, in einer Welt, die dessen Wert schmälert, in einer Welt, in der alles besser als dieses ist, wird immer mit dem Schuldproblem und der Erkenntnis dessen belastet bleiben.
JOURNALIST: Wir haben eine Hörerin am Telefon, die sich an der Diskussion beteiligen möchte.
STIMME: Ich verfolge Ihr Gespräch und verspüre ein Verlangen, Ihnen meine, d.h. nicht meine, Geschichte zu erzählen...
JOURNALIST: Was heißt meine, nicht meine ?
STIMME: Nicht meine, weil sie mich nicht direkt betroffen hat. Meine, weil sie mich persönlicher berührt hat, als man sich das vorstellen könnte.
PSYCHOLOGIN: Fahren Sie fort...
STIMME: Jedoch möchte ich Ihnen zuerst eine Frage stellen.
PSYCHOLOGIN: Bitte.
STIMME: Sind sie Mutter ?
PSYCHOLOGIN (nach einer längeren Pause, leicht verwundert): Nein.
STIMME: Somit werden Sie diese Worte nicht verstehen.
PSYCHOLOGIN: Das wissen Sie nicht.
STIMME: Und Ihr Haus ? Wie war es ?
PSYCHOLOGIN: Mein Haus ? Was hat das jetzt zur Sache ?
STIMME: Das hat mehr zur Sache, als Sie vermuten. Das war nämlich die Stimme eines Elternteils. Des Vaters.
PSYCHOLOGIN: So?
STIMME: Das war ein Urteil.
PSYCHOLOGIN: Ich verstehe nicht.
STIMME: Der Vater sagte: “Ich verurteile dich zum Tode des Ertrinkens !”
PSYCHOLOGIN: Ihnen hat er das gesagt ?
STIMME: Nicht mir...Mir...Als ob mir...Lauter als mir...mir hat es mehr wehgetan...Es schmerzt...Bis heute....
PSYCHOLOGIN: Wann ist es denn passiert ? In Ihrer Kindheit ?
STIMME: Ich sagte bereits, dass sich das nicht auf mich bezieht.
JOURNALIST (redet hinein, als ob er seine Anwesenheit unterstreichen möchte): Möchten Sie darüber sprechen ?
STIMME (aufgescheucht): Ich...Entschuldigung. Ich sollte hier nicht anrufen.
PSYCHOLOGIN: Dafür sind wir doch da…
STIMME: Nein. Entschuldigung.
JOURNALIST: Bitte legen Sie nicht auf.
Ein Geräusch, als ob jemand den Telefonhörer auflegen würde. Der Journalist zeigt der Regie, dass sie die Musik laufen lassen soll. Glenn Miller.
PSYCHOLOGIN (schreit): Um Himmels Willen, was haben Sie da getan ? Sie hätten mich zumindest nicht stören sollen. Ich kenne den Job.
JOURNALIST (beleidigt): Ich muss Sie nicht daran erinnern, dass das meine Arbeit ist. Ich wollte Sie doch aufhalten.
PSYCHOLOGIN: Ausgezeichnet. Diese Frau hat ein ernsthaftes Problem. Ich müsste mit ihr sprechen. Sie wird aber nicht mehr anrufen.
JOURNALIST: Es sei denn wir überreden sie.
PSYCHOLOGIN: Denken Sie ?
JOURNALIST: Wir könnten es ja zumindest versuchen. Wir haben nichts zu verlieren.
Die Musik verstummt.
JOURNALIST (ins Mikrophon): Liebe Hörer, heute haben wir eine Sendung für Sie vorbereitet, die dem Schuldproblem gewidmet ist. Unser Gast ist heute die Psychologin Frau Rebecca Isaacovitch. Hiermit lade ich Sie zur Diskussion ein. Frau Doktor, vielleicht kommen wir noch einmal zum letzten Anruf zurück. Können Sie sich vielleicht daran erinnern, welchen Satz unsere Hörerin zitiert hat ?
PSYCHOLOGIN: Selbstverständlich...Das war...
JOURNALIST: O, wir haben den nächsten Gast and der Leitung. Wir sind ganz Ohr.
STIMME: Vor der Pause, das war ich. Ich dachte, es ist nicht schön, sich aus dem Gespräch auszuschalten. Deswegen rufe ich an. Entschuldigung.
PSYCHOLOGIN: Hauptsache, Sie sind wieder mit uns. Möchten Sie auf unser Gespräch zurückkommen ?
Schweigen.
JOURNALIST: Sind Sie da ?
STIMME: Ja...Ob ich darauf zurückkommen möchte ? Ich habe Angst.
PSYCHOLOGIN zeigt dem Journalisten, dass er still sein möge.
STIMME: Ich habe Angst, diesen Moment noch einmal aufleben zu lassen. Es sind schon so viele Jahre vergangen – und doch kommt es mir vor, als wäre nicht mal ein Tag vorbei, als hätte sich nichts geändert. Ich bin Witwe. Schon seit fast dreißig Jahren. Noch immer bin ich mit Trauer erfüllt. Ich starb im Jahre vierundzwanzig. Als er...von uns ging.
PSYCHOLOGIN: Ihr Mann ?
STIMME: Mann ? (Pause). Ach ja, mein Mann. Der Vater meines Kindes. Ja. Das war mein Mann. Ja, das Wort Mann entspricht wohl am besten der Situation. Das klingt so, als ob ich seine Frau wäre, nicht ?
PSYCHOLOGIN: Könnten Sie ihren Gedanken weiter ausführen ? Ich gebe zu, dass ich Sie nicht verstehe.
STIMME: Daran ist nichts schwieriges. Ich liebe ihn weiterhin. Und er hat mich auch sehr geliebt. Mann. Ja. Erst jetzt, beim Aussprechen dieses Wortes, verstehe ich, dass er mich geformt, aus seinen Ängsten gebaut hat, gegen ihn, als ob er aus mir einen Impfstoff gegen seine Angst zu machen versuchte. Gegen die Schuld.
PSYCHOLOGE: Genau, Sie sprachen schon vorher davon...
STIMME: Ich ? Ach ja.... Stimmt. Es konnte nicht anders sein. Er fühlte sich schuldig, er fühlte sich ständig schuldig. Ich kann das gut nachvollziehen. Er war nicht von hier. Das war kein Mensch von dieser Welt. Er war zu modern für seine Zeit. Er war so sensibel, dass schon ein Staubkorn, schon ein Atemzug seine fragile Konstruktion zu zerbrechen vermochte. Stellen Sie sich nun die Worte vor, die gegen ihn ausgesprochen wurden. Durch den Vater. Gerichtet an diesen überempfindlichen Mann. Das war der Anfang seines Endes. Und der Anfang seines Anfangs. Dieses väterliche Urteil hat ihn geschaffen. Und er hat sich von der Brücke geworfen... Nein. Er ist nicht verunglückt. In Wahrheit ist er gar nicht gesprungen. Es scheint, als ob er sich das ganze Leben lang immer wieder von der Brücke warf – um gehorsam Anweisungen auszuführen. Ich denke, dass er sich sehr vor seinem Vater fürchtete. Vielleicht hat er ihn zugleich gehasst und geliebt, konnte ihm keinen Widerstand leisten.
PSYCHOLOGIN: Ja, ich verstehe. Sprechen Sie weiter.
STIMME: Sie verstehen nichts. Gar nichts. Einen solchen Menschen wie ER wird keiner vollständig verstehen können. Alle sind davon überzeugt, dass sie so viel wissen – aber in Wirklichkeit wissen sie nichts. Er war ein wandelndes Rätsel.
PSYCHOLOGIN: Ihr Mann ?
STIMME: Mann ?
PSYCHOLOGIN: Sie sprechen doch jetzt über Ihren Mann ?
STIMME: Ja. Über den Mann. Meinen Mann.
PSYCHOLOGIN: Konnten Sie ihn verstehen ?
STIMME: Ich ? Ich war dumm. Jung. Ich wusste nichts. Ich habe ihn einfach...geliebt. Er war meine ganze Welt. Er war meine Rettung.
JOURNALIST: Rettung ? Wovor ?
STIMME: Vor mir selbst.
PSYCHOLOGIN: Ich verstehe nicht.
STIMME: Ich sagte bereits, dass es nicht einfach ist, dies zu verstehen. Nur er konnte das. Nur er würde es zu verstehen wissen, es ihnen zu erklären. Einzig er.
PSYCHOLOGIN: Und der Vater ? Sie sprachen vom Vater Ihres Mannes.
STIMME: Vater... Er war auch Vater. Der Vater meines Kindes. Der Vater unserer Tochter.... Er war ein anderer Vater.
PSYCHOLOGIN: War er besser ?
STIMME: Mein Gott, was für eine Frage... Wenn er sie nur kennen würde. Wenn er sie kennen würde.
JOURNALIST: Kennen würde ? Wenn denn ?
STIMME: Unser Töchterchen. Wenn er sie kennen würde.
PSYCHOLOGIN: Er hat seine eigene Tochter niemals kennen gelernt ?
STIMME: Das sagte ich bereits... Ich sagte schon, dass... dass es langer her ist, seitdem er nicht mehr da ist... Er ist vor so langer Zeit von uns gegangen, als wäre es gestern geschehen. Unser Töchterchen wurde geboren...
PSYCHOLOGIN: So ?
STIMME: Unser Töchterchen... Sie...Es macht doch keinen Unterschied, dass sie später geboren wurde, viel später ? Das ist doch nicht von Belang. Das ist doch unser kleines Töchterchen.... Er wäre stolz auf sie. Sehr stolz.
PSYCHOLOGIN: Und sein Vater ?
STIMME: Der Vater...Ja. Der Vater hat ihn zerstört. Ermordet. Eines Nachts, als er noch ein kleines Kind war...
P: Wer ? Ihr Mann ?
S: Mein Mann ? Ach ja. Er hat den Vater um ein bisschen Wasser gebeten... Und dieses Monstrum, dieses Monstrum hat ihn aus dem Bett genommen und wie eine Topfblume auf das Balkon herausgetragen. Mein kleiner Junge hatte nur ein Hemd an. Draußen aber war es kalt. Er hat ihn dort herausgetragen und abgesperrt, um ihn zu beruhigen. Mein kleiner Junge aber starb beinahe vor Angst, weinte, schrie: Mutter, Mutter. Alle fürchteten jedoch den Vater, darum half ihm keiner. Er war dort mit seinem Schreien allein, er schrie sich selbst an. Können Sie sich das überhaupt vorstellen ? Sie fragen nach dem Vater, nach seinen Methoden... Soll ich weiter erzählen ? Wissen Sie, dass mich noch heute alles schmerzt, wenn ich darüber erzähle. Der Schmerz sprengt mich von Innen, so als ob er mich zerreißen möchte... So als wäre wir eins. Haben sie von den zwei Apfelhälften gehört ? Genauso war es mit uns.
JOURNALIST: Sein Vater... War er...War er niemals gut ?
STIMME: Vielleicht war er niemals böse.
PSYCHOLOGIN: Könnten Sie uns das erklären ?
STIMME: Das ist doch Ihr Job.
PSYCHOLOGIN: Sie meinten der Vater ihres Mannes war vielleicht nicht böse...
STIMME: Stimmt.
JOURNALIST: Wie soll ich das verstehen ? Sie nannten Ihn doch ein Monstrum....
STIMME: Genau.... Denn...sehen Sie...weder ich, noch Sie sollten das beurteilen. Ich nannte ihn ein Monstrum in emotionaler Aufrührung, Aufregung. Vielleicht hat er ja nicht gewusst, dass er Schlechtes tut. Er war sich seines guten Vorgehens gewiss. Wissen Sie, was er ihm gesagt hat...dass er....ihn ...immer geliebt hat....weshalb dann ? Weshalb hat er ihn getötet ?
PSYCHOLOGIN: Ehrgeiz und Autorität sind manchmal die gefährlichsten Wegweiser. Vielleicht hat es ihn ja auch...
STIMME: Geschmerzt ? Ich habe oft darüber nachgedacht... Und hatte die Hoffnung, dass...
PSYCHOLOGIN: Dass ?
STIMMME: Es schmerzte...dass auch er gelitten hat. Dass auch ihm unwohl dabei war, jedes Mal selbst zu sterben, wenn er ihn tötete, wenn er ihn täglich mit seinen Bemerkungen tötete.
PSYCHOLOGIN: Weil er aus ihrem Mann sein Ebenbild schaffen wollte.... Wenn dieser den Erwartungen des Vaters nicht gerecht werden konnte, so verdiente er die Strafe...Obwohl das den Vater doppelt treffen musste. Einmal, weil sein Sohn seine Erwartungen nicht erfüllen konnte und dass zweite Mal, als er in die Toga des Richters schlüpfen musste, um...
STIMME: Das Urteil zu fällen, nicht wahr ?
PSYCHOLOGIN: Richtig, denn manchmal ist es sehr schwer die Grenze zu überschreiten und sich statt der Autorität von…Emotionen leiten zu lassen.
STIMME: Entschuldigen Sie bitte, aber als Maßstab dienen Ihnen nur wissenschaftliche Theorien, das Leben aber gleicht nicht einem Handbuch für Psychologie.... Verstehen Sie ? Mann kann diesen Schmerz, selbst wenn er sie beide betroffen hat, nicht mit Theorien messen. Verstehen Sie das ?
PSYCHOLOGIN: Ja. Ich verstehe. Ich versuche Ihnen zu helfen....
STIMME: Helfen ? Nein. Mir kann man nicht mehr helfen. Nicht darum habe ich angerufen. Nicht deswegen habe ich Ihnen von ihm erzählt.
JOURNALIST (frech): Warum dann ?
STIMME: Weil ich....ich bin jetzt....ganz...allein...
PSYCHOLOGIN: Und die Tochter ?
STIMME: Mit der Tochter kann ich darüber nicht sprechen. Sie ist hier, aber jetzt ist sie sehr weit weg...Sie ist jetzt hier...Hier....Weit weg....
PSYCHOLOGIN: Werden Sie noch mal...
STIMME: Anrufen ? Keine Ahnung...Vielleicht. Nein. Ich weiß nicht. Ich rufe an...
JOURNALIST: Wir bedanken uns für Ihren Anruf. Liebe Hörer, ich möchte Sie noch daran erinnern, dass Frau Rebecca Isaacovitch, eine Psychologin, mit der ich über das Schuldproblem…über Unrecht und Wiedergutmachung diskutiert habe, Gast unserer heutigen Sendung war. Wir werden Frau Isaacovitch noch einmal am Freitag um dieselbe Uhrzeit als Gast begrüßen dürfen. Vergessen Sie uns nicht. Wir warten auf ihre Bemerkungen, Meinungen, Briefe. Auf Wiederhören....
Musik. Gershwin.
JOURNALIST und PSYCHOLOGIN sammeln alle Unterlagen vom Tisch. Geben sich die Hand. Verdunkelung.
ZWEITE SZENE
Eine kleine, ein bisschen vernachlässigte Wohnung. Am Fenster sitzt die TOCHTER, geistig abwesend, den Blick auf einen Punkt fixiert. Einen Moment lang fürchterliche Stille. SIE betritt die Wohnung. In den Händen hält sie Einkaufstaschen. Auf einmal erwacht alles zum Leben. Die TOCHTER wendet sich vom Fenster ab und wirft einen Blick auf SIE.
TOCHTER: O, du bist ja schon da.
SIE (legt die Einkäufe ab): Ja. Ich bin schon da, mein Schatz. Ich sagte ja, dass ich nicht lange weg sein werde.
TOCHTER: Ich weiß. Aber vergiss nicht. Vergiss niemals, dass ich mich…fürchte.
SIE (nähert sich der Tochter, drückt sie an sich): Schon gut. Schon gut, mein Schatz. Ich bin hier. Ich bin da. Ist schon gut.
TOCHTER drückt sich an SIE, als wäre etwas schlimmes passiert, schluchzt
SIE: Es ist ja gut. Du weißt doch, dass ich dich niemals zurücklassen würde.
TOCHTER: Ich weiß...Versprich mir...dass Du mich niemals...zurücklässt.
SIE: Das sagte ich ja. Ich lasse dich nicht zurück. Hat jemand angerufen ?
TOCHTER: Nein. Überhaupt niemand.
SIE: Ich mach Abendessen. Und dann reden wir darüber, in Ordnung ?
TOCHTER: Ich habe auf dich gewartet.
SIE: Ich weiß.
TOCHTER: Aber du bist schon da. Es ist schon gut. Ich muss doch erwachsen sein. Liest du mir was vor ?
SIE: Was denn ?
TOCHTER: Liest du mir etwas vom Vater vor ?
SIE: Gut. Aber nach dem Abendessen, in Ordnung ?
TOCHTER: Und singst du mir was vor ?
SIE: Gut, ich singe etwas. Was soll ich denn singen ?
TOCHTER: Du singst so schön…in dieser Sprache…
SIE: Du wirst es auch einmal lernen. Ich bringe dir das bei, gut ? Deswegen sammle ich diese Lieder – damit sie erhalten bleiben, um sie zu lehren…Für dich.
TOCHTER: Hast du auch für Vater gesungen ?
SIE: Ich war dumm. Jung. So jung, wie du jetzt.
TOCHTER: Ich bin auch dumm ? Denkst du, dass ich dumm bin ?
SIE: Es ist nicht so. Ich war zu dumm für deinen Vater. Er war so...klug....Er wusste mehr, er wusste besser. Aber er prunkte nicht damit.
TOCHTER: Du denkst, dass ich dumm bin, nicht ?
SIE: Nein. Ich denke, dass du klug bist. So klug wie er, dein Vater. Schade, dass du ihn nicht kanntest. Und dass er dich nicht kennen gelernt hat.
TOCHTER: Mutter, aber wie ist es denn möglich ? Tante Sara hat doch... Tante Sara sagte doch, dass er nicht...
SIE: Tante Sara ist dumm. Sie versteht das alles nicht.
TOCHTER: Aber sie hat doch Recht.
SIE: Wer hat Recht ? Sara ?
TOCHTER: Ja, weil ich...
SIE: Was ?
TOCHTER: Er kann nicht...
SIE: Er ist..
TOCHTER: Aber ich bin doch...
SIE: Ein für alle Mal. Er ist dein Vater. Nur er.
TOCHTER: Und mein zweiter Vater ?
SIE: Dein zweiter Vater war nur...mein Ehemann...Ich brauchte ihn....
TOCHTER: Damit ich geboren werden konnte ?
SIE: Damit du geboren werden konntest.
TOCHTER: Damit du mich IHM abgeben konntest ?
SIE: Abgeben ? Kind, worüber sprichst du überhaupt ? Ich hab dir einen Vater geschenkt. Du kanntest ihn nicht, doch einzig er, einzig er wollte dich.
TOCHTER: Deswegen hast du mir diesen Namen gegeben – seinen, nur die weibliche Variante. ...Ein Name, der....
SIE: Der was ?
TOCHTER: Weil Tante Sara gesagt hat, dass du mich mit diesem Namen gekennzeichnet hast.
SIE: Sie hat also doch angerufen ?
TOCHER: Wer ?
SIE: Sara.
TOCHTER: Ja. Sie hat mich aber gebeten, dir das nicht zu verraten.
SIE: Anscheinend hat sie gewusst, dass sie etwas Falsches tut. Du lässt dich aufhetzen – gegen die eigene Mutter, gegen den Vater. Du lässt deinen Namen in den Dreck ziehen...Warum ?
TOCHTER: Mutter. Du weißt doch, dass ich nichts Schlechtes wollte. Ich weiß doch, warum du das getan hast. Du tust es für mich. Ich weiß es doch.
SIE: Hör nicht auf Sara, Kind. Sie ist nicht bei Verstand. Měszuggā. Sie ist eine total Verrückte.
TOCHTER: Sprich nicht so, Mutter. Sie meint es doch gut...mit....uns. Sie liebt dich doch sehr. Warum möchtest du nicht mit ihr sprechen ?
SIE: Es ist nicht so. Sie hetzt dich gegen mich und deinen Vater auf. Das gefällt mir nicht.
TOCHTER: Und mein zweiter Vater ? Warum darf ich mich nicht mit ihm sehen ?
SIE: Besser nicht. Das ist keine gute Idee. Du hast einen Vater.
TOCHTER: Er lebt nicht mehr.
SIE: Er lebt. Er allein wird überdauern. Er wird uns alle überdauern. Er allein. Du musst fest daran glauben. Du bist so wie er. Du hast ähnliche Augen und eine ähnliche Nase. Und du bewegst dich wie er. Und du sprichst wie er. Siehst du. Er lebt. In dir.
TOCHTER: Er ist leblos.
SIE: Nein. Er ist in dir.
TOCHTER: Er ist leblos in mir. Er liegt unter meinem Herzen. Leblos und kalt. Er ist dort. Er ist am Verwesen. Deswegen kotz ich so viel.
SIE (nähert sich der TOCHTER, drückt sie an sich, streichelt sie): Ich sag jetzt nichts mehr, siehst du. Nichts mehr. Ja, es ist ja schon gut. Schon gut, Töchterchen.
TOCHTER: Nichts ist gut, weil ich ihn ständig auskotze. Wegen ihm kann ich nicht essen, weil er dort in mir....fault. Deswegen kann ich nichts essen. Deswegen kann ich nichts essen !
SIE: Es ist nicht so. Du hungerst dich ja selbst aus...
TOCHTER: Ich ? Du bist daran schuld.
SIE: Es...es ist ja schon gut.
TOCHTER: Ich esse nichts, weil er dort in mir am Verfaulen ist. Und ich kann ihn nicht vollständig auskotzen. Und du zwingst mir ständig Essen auf. Ich aber kann nicht essen, verstehst du ? Ich kotze sowohl ihn als auch das aufgezwungene Essen aus. Aber ich kann ihn nicht vollständig auskotzen.
SIE: Gut...Beruhige dich. Gut.
TOCHTER: Ich bin ja ruhig. Ich bin sehr ruhig.
SIE: Leg dich hin. Leg dich. Ich mache Abendessen.
TOCHTER: Wieder möchtest du mir Essen aufzwingen. Wieder. Nichts ich werde ich essen. Nichts.
SIE: Du musst etwas essen. Du musst.
TOCHTER: Ich kann nicht. Verstehst du ?
SIE: Du darfst dich nicht aushungern.
TOCHTER: Ich darf.
SIE: Sprich nicht so.
TOCHTER: Und Vater ?
SIE: Was soll mit dem Vater sein ?
TOCHTER: Woran ist er gestorben ?
SIE: Du weißt doch, dass er Tuberkulose hatte.
TOCHTER: Und Tante Sara....
SIE: Sie wieder ? Was hat Sara noch gesagt ? Sie weiß doch, dass er Tuberkulose hatte.
TOCHTER: Tante Sara sagte, dass er nicht essen konnte.
SIE (schweigt).
TOCHTER (läuft um einen großen Tisch herum, als würde sie mit jemanden Fangen spielen. Schreit zur am Fenster stehenden Mutter):
Gestorben ist er aus Hunger
als Junger
Alter Drachen
denn am Faulen war sein Rachen.
SIE sagt nichts.Weint
TOCHTER:
Gestorben ist er aus Hunger
als Junger
Alter Drachen
denn am Faulen war sein Rachen.
SIE (mit restlichen Kräften, sehr still): Hör auf. Hör auf, Töchterchen.
DRITTE SZENE
TOCHTER liegt auf dem Sofa. SIE mit einem Buch bei der TOCHTER
SIE (liest): „Und überdies kann ich es nicht machen, wie ich es immer als Kind bei gefährlichen Geschäften machte ? Ich brauche nicht einmal selbst aufs Land fahren, das ist nicht nötig. Ich schicke meinen angekleideten Körper. Wankt er zur Tür meines Zimmers hinaus, so zeigt das Wanken nicht Furcht, sondern seine Nichtigkeit. Es ist auch nicht Aufregung, wenn er über die Treppe stolpert, wenn er schluchzend aufs Land fährt und weinend dort sein Nachtmahl isst. Denn ich, ich liege inzwischen in meinem Bett, glatt zugedeckt mit gelbbrauner Decke, ausgesetzt der Luft, die durch das wenig geöffnete Zimmer weht. Die Wagen und Leute…“
TOCHTER (beendet aus dem Gedächtnis): „Die Wagen und Leute auf der Gasse fahren und gehen zögernd auf blankem Boden, denn ich träume noch....“ Das ist so schön, Mutter, von diesem Träumen. Ich mag es, wenn du mir das vorliest.
SIE: Ich wusste nicht, dass du das schon auswendig kannst. Mir gefällt das auch sehr gut. Weißt du, als wir zusammen waren, da kannte ich seine Texte nicht. Ich kannte seine wichtigsten Werke nicht. Sie haben mich überhaupt nicht interessiert. Sie brauchten für mich nicht zu existieren...
TOCHTER: Und heute ?
SIE: Heute lebt er in diesen Texten....Noch immer habe ich Gewissensbisse, dass ich einige von ihnen verbrannt habe...
TOCHTER: Die du verbrannt hast ?
SIE: Er hat mich darum gebeten. Und ich war gehorsam. Ich brannte sie.
TOCHTER: Also hast auch du ihn getötet ?
SIE: Wie denn ?
TOCHTER: Er lebt in diesen Texten.
SIE: Ich habe nur seine Bitten ausgeführt.
TOCHTER: Und hat Papa sehr gelitten?
SIE: Er war ein tapferer Mensch. Auch ich litt. Man stirbt nicht für sich allein, man stirbt nicht einsam. Ich war damals auch am Sterben. Und starb.
TOCHTER: Mutter, sprich nicht so. Und ich ?
SIE: Ich lebe für dich.
TOCHTER: Sag also nicht, dass du gestorben bist. Denn manchmal gleicht dieses Haus....gleicht dieses Haus einem Sarg. Manchmal beneide ich dich darum, dass ihr mit Papa ein richtiges Haus hattet, ein...so glückliches.
SIE: Wir waren glücklich.
TOCHTER: Bist du aber nicht mehr ?
SIE schweigt
TOCHTER: Ich möchte, dass du glücklich wirst....mit mir.
SIE: Ich bin es ja. Ich bin es ja, Kind.
TOCHTER: Manchmal....da habe ich Angst....um dich, Mutter.
SIE: Um mich ?
TOCHTER: Ich habe Angst, dass du verrückt wirst.
SIE: Wieso denn das ?
TOCHTER: Weil Tante Sara gesagt hat, dass du ein gefährliches Leben führst.
SIE: Hast du lange mit ihr gesprochen ? Mit Sara ?
TOCHTER: Lange.
SIE: Sie hat dir eine Gehirnwäsche verpasst.
TOCHTER: Nein. Sie hat mich beruhigt.
SIE: Wie denn, wenn du dich fürchtest.
TOCHTER: Sie hat mich beruhigt. Ich dachte, ich wäre krank...aber Tante Sara sagte, ich sei gesund. Ganz gesund.
SIE: Weil du es bist.
TOCHTER: Mutter, sing mir was vor, bitte.
SIE: Möchtest du ?
SIE singt ein Vorkriegslied auf Jiddisch
TOCHTER schaut ihr in die Augen
SIE hört auf zu singen
TOCHTER: Denkst du, dass ihr noch zusammen wärt....wenn er leben würde ?
SIE: Woher soll ich das wissen ?
TOCHTER: Aber was denkst du ?
SIE schweigt
TOCHTER: Also...was denkst du ?
SIE: Ich weiß nicht.
TOCHTER: Vielleicht ist es dir lieber...wenn....er....tot ist ?
SIE: Das ist nicht wahr.
TOCHTER: Und Tante Sara sagte, dass du es magst, ihm nachzuweinen.
SIE (schreit): Das ist dein Vater. Er verdient Achtung. Du darfst nicht auf Sara hören. Und auch nicht mit ihr sprechen. Sie will dich mir entreißen. Sie will dich mir wegnehmen. Ich aber habe außer dir niemanden. Du darfst nicht mit Sara sprechen. Das darfst du nicht vergessen.
TOCHTER: Ich mag sie, Mutter.
SIE: Ich weiß. Versprich mir aber, dass du mit ihr nicht sprechen wirst. Wenn sie anruft, dann sag, dass du nicht sprechen kannst, in Ordnung ?
TOCHTER schweigt
SIE: In Ordnung ?
TOCHTER: In Ordnung, Mutter.
SIE: Schlaf schon, Töchterchen. Schlaf.
TOCHTER: Und du ?
SIE: Ich leg mich auch gleich ins Bett. Ich hab noch etwas zu tun. (Das Licht erlischt, nach einem Augenblick wird es wieder hell)
TOCHTER (schläft)
SIE (schaltet das Radio an. Glenn Millers Musik. Nach einer Weile die Stimme des JOURNALISTEN)
JOURNALIST: Wie jeden Freitag darf ich in meinem und Ihrem Namen die Psychologin Frau Rebecca Isaacovitch begrüßen. Heute werden wir über Ängste diskutieren. Wir bitten Sie, uns anzurufen. Wovor haben Sie Angst ? Wie bewältigen Sie die Angst ? Kann man sie besiegen ? Genau, Frau Doktor, kann man die Angst effektiv bekämpfen ?
PSYCHOLOGIN: Das ist sehr individuell. Es hängt davon ab, wie stark unsere Ängste sind, wie lange sie schon einem zu schaffen machen, womit sie zusammenhängen. Sich der Angst zu unterwerfen kommt einer Autodestruktion gleich. Der Mensch, der sich fürchtet, ist sich seiner selbst unsicher, er kann sich auf nichts außer seiner Angst konzentrieren. Er versucht sie zu verbergen, doch sie schlägt mit doppelter Kraft zurück – zitternde Hände, verschwitzte Handflächen, zitternde Stimme, nasse Stirn. Angst kann töten. Es ist schwierig sie zu bewältigen.
Während die PSYCHOLOGIN spricht, wählt SIE die Telefonnummer des Radiosenders.
SIE: Ich möchte etwas sagen.
JOURNALIST: Frau Doktor, wir haben den ersten Anruf. Wir sind ganz Ohr.
SIE: Angst muss nicht von solchen äußerlichen Symptomen begleitet werden, wie Sie das dargestellt haben.
PSYCHOLOGIN: Wir haben mit Ihnen letzte Woche gesprochen, nicht wahr ?
SIE: Ja. Das bin ich. Frau Doktor, sie lassen dieses ganze Problem zu einer Abstraktion verkommen. Es ist nicht so, wie sie es uns erklären.
PSYCHOLOGIN: So kann es aber sein.
SIE: Nun gut...Sie dürfen aber nicht verallgemeinern. Manchmal reicht es....sich vor der Welt zu fürchten, sich zu leben fürchten. Davon bekommt man keine zittrigen Hände, die Stimme wird auch nicht zittrig, die Stirn schwitzt nicht. Die Angst vor der Welt ist aber so lähmend, dass sie einem die Lust zu leben wegnimmt. Und alles scheint auf einmal schwarz zu sein.
PSYCHOLOGIN: Sie sprechen von einer konkreten Person, nicht wahr ?
SIE: Ja.
PSYCHOLOGIN: Von Ihrem Mann ?
SIE: Vom Mann ? Ja. Ich spreche von ihm. Und von unserer Tochter.
JOURNALIST: Wovor fürchtet sich Ihre Tochter ?
SIE: Sie sagte mir heute....(weint) Sie sagte mir heute, dass sie Angst hat...dass ich...dass ich...verrückt werde.
PSYCHOLOGIN: Warum denken Sie, hat sie so etwas gesagt ?
SIE: Weil sie....verdammt intelligent ist. Wie er. Ich kann mir vormachen, dass ich das nicht sehe, ich kann mir vormachen, dass sie im Unrecht ist, aber ich kann mich nicht selbst belügen.
PSYCHOLOGIN: Was fühlen Sie ?
SIE: Ich fürchte mich.
PSYCHOLOGIN: Um sich ?
SIE: Um sie. Ich habe Angst, dass sie im Leben nicht zurechtkommt, wenn ich sterbe. Sie ist so zerbrechlich, zart, überempfindlich. Weil sie wie er...nur ein Staubkorn, nur ein Atemzug kann sie töten. Und ich habe sie das ganze Leben lang beschützt...
PSYCHOLOGIN: Übertriebene Fürsorge kann zerstörerisch sein.
SIE: Was soll ich also...tun ?
PSYCHOLOGIN: Ist es aber vielleicht nicht so, dass ihre Tochter für Sie eine Stütze ist ?
SIE: Ja.
PSYCHOLOGIN: Und Sie für Ihre Tochter ?
SIE: Ich weiß nicht. Entschuldigen Sie, ich möchte die Leitung nicht besetzen.
JOURNALIST: Bitte bleiben Sie bei uns. Bitte legen Sie nicht auf.
SIE: Weil...Weil ich nicht weiß, welche von uns...... die Mutter ist.
PSYCHOLOGIN: Steht Ihre Tochter mit dem Vater in Verbindung ?
SIE: Ich sagte bereits, dass er tot ist.
PSYCHOLOGIN: Ich habe verstanden, dass ihr biologischer Vater lebt.
SIE: Was soll biologischer Vater denn heißen ? Das heißt noch gar nichts. Sie hat einen wunderbaren Vater, der ...der im Jahre vierundzwanzig gestorben ist.
PSYCHOLOGIN: Ich muss es Ihnen sagen: ich glaube, dass sie ihr Leid zu fügen. Ihr und sich selbst.
SIE: Was wissen Sie denn schon ? Wieder verstehen Sie nichts. Wieder verstehen Sie nichts. Womit füge ich ihr angeblich Leid zu ? Dass ich ihr einen Vater geschenkt habe ?
PSYCHOLOGIN: Dass sie ihr den Vater weggenommen haben.
SIE: Dieses Gespräch hat keinen Sinn. Entschuldigung.
Legt den Hörer auf.
Aus dem Radio:
PSYCHOLOGIN: Ich bitte Sie, ich möchte Ihnen helfen. Bitte rufen Sie an. Wenn Sie bereit wären, sich mit mir zu treffen...
Nach diesen Worten schaltet SIE das Radio aus. Geht zum Fenster. Es ist Nacht. Steht am Fenster. Weint.
Nähert sich dem Bett. Setzt sich auf das Bett. Betrachtet die schlafende TOCHTER. Küsst sie auf die Stirn.
SIE (flüsternd): Siehst du...Wir haben eine großartige Tochter. Sie hat Dich gerettet. Erinnerst du dich daran, was für Pläne wir hatten ? Wir wollten ein kleines Cafe aufmachen. Das werden wir noch tun.
Legt sich neben das Mädchen.
Das Licht erlischt.
SIE: Töchterchen. Unser kleines Töchterchen. Mein lebloses Töchterchen.
ENDE DES ERSTEN AKTES
ZWEITER AKT
ERSTE SZENE
Dieselbe Wohnung.
SIE sitzt am Schreibtisch. Schreibt. Die TOCHER sieht durch das Fenster. Klopfen an der Tür.
SIE: Wer da ? Geh Kind, mach auf.
TOCHTER geht zur Tür.
SIE folgt der TOCHTER. Gemeinsam machen sie die Tür auf.
Vor der Tür steht die Frau vom Radiosender.
SIE: Wir kaufen nichts.
PSYCHOLOGIN: Ich möchte nichts verkaufen.
SIE: Wer sind Sie dann ?
PSYCHOLOGIN: Wir kennen uns aus dem Radio.
TOCHTER (verwundert): Mutter, du warst im Radio ?
SIE zur TOCHTER: Lass uns allein, Schatz.
TOCHTER begibt sich in die Küche.
SIE: Wie kennen wir uns aus dem Radio ?
PSYCHOLOGIN: Wir sprachen miteinander.
SIE (verwirrt): Wie haben Sie mich hier gefunden ?
PSYCHOLOGIN: Das war ein richtiger Zufall. Meine Nachbarin hat unser Programm mitverfolgt. Als ich nach Hause zurückehrte, kam sie zu mir und sagte: “Ich kenne die Frau, die angerufen hat. Sie schreibt jiddische Lieder auf...Ich kenne sie, sie war einmal bei mir”. Sie hat Sie an der Stimme erkannt. Sie haben eine solch charakteristische Stimme. Auch ich hätte Sie erkannt, wenn ich Sie auf der Straße oder im Geschäft gehört hätte. In ihrer Stimme lebt...die Tragödie....eines ganzen Volkes. Sie hat mir Ihren Namen gegeben. Der Rest war ein Kinderspiel.
SIE: Warum sind Sie gekommen ?
PSYCHOLOGIN: Ich möchte Ihnen helfen. Ich konnte Ihre Geschichte nicht vergessen.
SIE: Ich brauche keine Hilfe.
PSYCHOLOGIN: Darf ich reinkommen ?....Könnten wir einen Kaffee trinken ?
SIE (verwirrt): Ja, bitte.
PSYCHOLOGIN betritt das Zimmer. Betrachtet alle Sachen. SIE geht in die Küche. Nach einer Weile kommt sie mit einem Kaffee zurück. Allein. Die TOCHTER weiter in der Küche.
PSYCHOLOGIN: Entschuldigen sie meinen Überfall. Verstehen Sie mich. Ich musste Sie besuchen.
SIE: Wenn Sie es sagen...
PSYCHOLOGIN: Ihr Mann – er war der wichtigste Mensch in Ihrem Leben, nicht wahr ?
SIE: Ja.
PSYCHOLOGE: Wer war er ?
SIE: Er war ein großer Mensch. Es wird viel Zeit vergehen, bis man ihn verstehen wird.
PSYCHOLOGE: Wer war er ?
SIE: Für mich war er vor allem ein Mensch. Nach seinem Tod habe ich auch verstanden, dass er ein Schriftsteller war. Ein großer Schriftsteller.
PSYCHOLOGE: Sie wollten ein Kind miteinander haben ?
SIE: Wir haben eins.
PSYCHOLOGE: Nun ja. Sie haben sich mit seinem Tod niemals abfinden können, nicht wahr ?
SIE: Kann man sich überhaupt mit dem Tod abfinden ?
PSYCHOLOGE: Werden Sie mir davon erzählen ?
SIE: Warum ?
PSYCHOLOGE: Weil er ein interessanter Mensch war.
SIE: Ein interessanter Mensch ? Das war der faszinierendste Mensch, den ich in meinem Leben begegnet bin.
Die TOCHTER betritt das Zimmer.
TOCHTER: Mutter dachte, dass Papa verheiratet war. Als sie ihn das erste Mal sah, spazierte er mit einer Frau und zwei Mädchen. Das war jedoch seine Schwester und ihre Töchterchen. Mutter arbeitete in der Küche – bis Vater sie einmal betrat. Mutter säuberte gerade Fische. Vater sagte: “So zarte Hände, und sie müssen solche eine blutige Arbeit verrichten”.
Auf einmal fängt die TOCHTER fast zu rezitieren an und spricht von ihrer Mutter in der ersten Person.
TOCHTER: Ich war so beschämt. Ich dachte, die Erde würde mich verschlingen. Er gefiel mir von dem Moment an, als ich ihn mit der Frau und den Mädchen gesehen habe. Ich wusste nur, dass er Doktor war. So nannte man ihn. Er war hoch gewachsen. Hundertachtzig Zentimeter. Er hatte scharfe, ausgeprägte Geschichtszüge, große dunkle Augen. Er war doppelt so alt wie ich, aber mir kam er überhaupt nicht alt vor. Obwohl ich früher vierzigjährige Männer fast schon für alte Menschen hielt.
SIE sagt nichts. Verwundert verfolgt sie den Monolog der TOCHTER. PSYCHOLOGIN unterbricht auch nicht.
TOCHTER: An diesem Tag habe ich um Stellenwechsel gebeten. Er hatte Recht. Ein solches Mädchen wie ich konnte eine solch blutige Arbeit nicht verrichten. Von diesem Tag an sprachen wir viel miteinander. Er wunderte sich, dass ich Hebräisch studiere. Jüdische Mädchen gingen zu dieser Zeit noch nicht zur Schule. Ich war immer mit offenen Augen durch die Welt gegangen. Vielleicht hat ihm das imponiert, Töchterchen. Wir verbrachten viel Zeit miteinander, und ich las ihm auf Hebräisch, dass ihn damals sehr interessierte. Am ersten oder zweiten Tag unserer Bekanntschaft las ich ein Kapitel aus dem Buch Jesaja vor, und er sagte: “Sie haben Talent ein Schauspieltalent. Warum bilden Sie sich in dieser Richtung nicht fort ? Ich habe Schauspielerfreunde, Juden aus Warschau, die ihnen helfen könnten. Vielleicht kennen sie hier eine gute Schauspielschule.” Er erzählte mir viel über seine Freunde – die Schauspieler, die er, glaube ich, im Jahre elf kennen gelernt hatte.
SIE: Das reicht Töchterchen.
TOCHER: Unterbrich mich nicht, unterbrich mich nicht, Mutter. Ich erinnere mich an alles, ich kann dieser Frau alles erzählen.
PSYCHOLOGIN (zu IHR): Haben Sie ihrer Tochter oft diese Geschichte erzählt ?
SIE: Ein paar Mal.
TOCHTER: Und ich mochte es, wenn mir die Mutter über Vater erzählte.
PSYCHOLOGIN: Und dein....richtiger Vater ?
SIE: Das war ihr richtiger Vater ! Bitte gehen Sie weg ! Bitte lassen Sie uns in Ruhe !
TOCHTER: Mutter, erzähl doch der Frau vom Vater. Erzähl.
SIE: Sie gehen schon, nicht wahr ? Ich möchte Sie nicht aufhalten.
PSYCHOLOGIN rührt sich nicht. Beabsichtigt nicht wegzugehen.
TOCHTER: Mutter, ich kann davon erzählen. Ich möchte, dass Sie bleiben. Nur selten haben wir Gäste.
SIE: Das gefällt mir nicht.
TOCHTER: Er erweckte ganz und gar nicht den Eindruck eines kranken oder von Natur aus trüben Menschen. Im Gegenteil. Er war lustig, bezaubernd, stets voll auf seine Umgebung konzentriert. Er hatte ein richtiges Schauspielertalent, der sich nicht nur in seiner Diktion bemerkbar machte. Erinnerungen an seinen Akzent, Satzrhytmus lassen mich, jede Zeile von ihm erkennen, die er geschrieben hat. Dieses Schauspielertalent machte sich in den tausenden Witzen und Improvisationen, mit denen er mich zum Lachen brachte, bemerkbar. Er hatte Angst vor Überraschungen. Wenn er einen Brief bekam, so machte er gleich ein großes Aufsehen. Er bedeckte den Brief mit dem Briefumschlag und deckte jede Zeile, die ich ihm vorlesen musste, auf, Millimeter nach Millimeter, so wie ein Pokerspieler seine Karten aufdeckt. Danach unterbrachen wir das Lesen, kommentierten und begannen das Spiel von Neuem.
PSYCHOLOGIN (zu IHR): Sie sagten, dass er Angst hatte.
SIE: Er hatte zwei Naturen. Eine helle und eine finstere. Eine heitere und eine depressive. Er hasste Konventionen. Er hasste Feigheit.
TOCHTER: Lügen.
SIE: Und Duldsamkeit. Denn sehen Sie, dass war ein guter Mensch, von Grund auf. Im Leben mochte er nicht aufzufallen. Ruhm und Erfolg waren für ihn nicht wichtig. Wichtig war ihm Ehrlichkeit gegenüber anderen, aber am meisten gegenüber sich selbst.
TOCHTER: Ich brauchte ihn. Niemand stärkte mir damals den Rücken. Ich lief von zu Hause weg. Mein Vater war ein gottesfürchtiger Jude. Zu Hause konnte ich nicht mehr atmen. Ich bin weggelaufen Danach lebte ich schon allein. Ganz allein. Weit weg von der Familie. Er verstand es, mit mir zu sprechen. Er verstand es, mir zuzuhören und mir Fragen zu stellen. Wenn man mit ihm sprach, hatte man das Gefühl, man sei für ihn in dem Moment die ganze Welt, Zentrum des Universums. Bis wir eines Tages beschlossen eine gemeinsame Wohnung zu beziehen. “Ich möchte dein Haus sein” - sagte er zu mir. Ich aber brauchte ein Haus.
SIE: Das war nicht einfach. Sowohl für mich als auch für ihn. Ich hatte begonnen die Kontakte zu meinem Vater und den Geschwistern neu aufzubauen, jetzt sollte ich mit einem doppelt so alten Mann wie ich zusammen wohnen. Und er...
TOCHTER: Er musste von zu Hause ausziehen, der Familie zum trotz handeln, vor allem dem Vater, der ihn sowieso für einen Stümper hielt.
PSYCHOLOGE: Und ihr zogt in eine gemeinsame Wohnung ?
TOCHTER: Ja das taten wir. Wir besaßen nichts. Die Wohnung war nicht beheizt. Wir hatten kein Geld, aber...
SIE: Wir waren glücklich. Ich kochte, machte den Haushalt. Er wollte sehr ein Familienoberhaupt sein. Er war schon sehr krank – täglich ging er aus dem Haus. Er nahm seine Einkaufstasche, Milchflasche und stellte sich in der Schlange vor dem Geschäft an. Die Schlangen waren damals riesengroß und es war nicht leicht, etwas zu bekommen. Manchmal kehrte er mit leeren Händen und sehr niedergeschlagen nach Hause zurück. Aber wenn es ihm gelang, etwas zu kaufen, war er glücklich. Er vertrat mir den Vater. Er wollte es so. Er liebte mich so, wie ein Mann eine Frau lieben kann, und er liebte mich so wie ein Vater seine Tochter lieben kann.
TOCHTER: Hyperinflation war damals der Normalzustand. Die Kartoffelpreise schnellten in die Höhe, und das im Gleichschritt mit der sich nach vorne bewegenden Schlange. Dein Vater aber stand geduldig und wartete...
SIE: Verzweiflung, Ratlosigkeit, grauer Alltag, leblose Gesten und Elend wohin man blickte. Und er in dieser Schlange. Das ruinierte sein Leben. Aber weder finanziell noch moralisch wollte er sich vor unserem gemeinsamen Schicksal drücken, vor der Verantwortung für mich. Er wollte nicht aufgeben. Obwohl sein Zustand einer soliden, reichhaltigen Mahlzeit verlangte. Er begrenzte sich aus eigenem Willen. Jeden Tag kämpfte er mit dem öden, Tag für Tag kleineren Bild eines Mannes, der nach einem Stück Brot Jagd macht.
TOCHTER: Nach den Einkäufen ging er Zeitung lesen. So viele Dinge interessierten ihn.
SIE: Er war kein Pessimist. Ein Pessimist ist ein Mensch, der aufgibt. Er kämpfte. Ständig. Um mich. Um uns. Je öfter er krank war, desto stärker wurde seine Lust zum Leben – obwohl er sich vor dem Leben fürchtete. Das ist ein Paradoxon, nicht wahr ?
PSYCHOLOGIN: Nein. Das ist kein Paradoxon. Überhaupt besteht das Leben aus lauter Paradoxa.
SIE: Alles was er anfasste, musste ideal werden. Ich lerne das. Ich lerne das bis heute.
PSYCHOLOGIN: Sie leben noch immer in dieser Zeit ? Ihr Lebenslauf nahm mit seinem Tod ein Ende, nicht wahr ?
Das Licht wird gedämpft.
ZWEITE SZENE
SIE holt einen Teller mit bedeckten Brotscheiben. Stellt ihn auf den Tisch. Die TOCHTER schläft. SIE weckt die TOCHTER:
SIE: Ich verlasse das Haus. Das Frühstück ist auf dem Tisch. Ich bitte dich, iss. In der letzten Zeit bist du so abgemagert. Du musst etwas essen. Versprich, dass du etwas isst.
TOCHTER (erwacht): Ich verspreche, Mutter. Du wirst dort nicht lange bleiben, nicht wahr ? Du kommst bald zurück ?
SIE: Weißt du, ich habe eine alte Jüdin aus Russland kennen gelernt. Sie kennt viele Lieder. Ich werde mit ihr sprechen. Vielleicht schreibe ich etwas auf – und komme zu dir zurück., in Ordnung ? Ich werde bald zurück sein.
TOCHTER: Gut. Komm schnell zurück.
SIE verlässt das Haus
TOCHER schaltet das Radio an. Diesmal vielleicht klassische Musik, vielleicht Schubert.
Schaut mit Abscheu auf das Frühstück. Nimmt den Teller in die Hand. Geht mit ihm zum Fenster. Legt die belegten Brotscheiben auf das Fensterbrett.
Kleidet sich an.
Türglocke.
Macht auf.
PSYCHOLOGIN: Ist Mutter zu Hause ?
TOCHTER: Nein. Sie ist eben zur Arbeit gegangen. Mutter schreibt alte Lieder in dieser Sprache auf...
PSYCHOLOGIN: Jiddisch.
TOCHTER: Genau.
PSYCHOLOGIN: Darf ich reinkommen ?
TOCHTER: Ich glaube schon. Immerhin sind Sie ja hier nicht mehr fremd. Sie waren schon da.
PSYCHOLOGIN: Bleibst du immer zu Hause ?
TOCHTER: Ja. Ich bin krank. Wissen Sie. Ich darf nicht nach draußen. Mama hat Angst um mich.
PSYCHOLOGIN: Erzählst du mir vom Vater ?
TOCHTER: Vom ersten ?
PSYCHOLOGIN: Vom zweiten.
TOCHTER: Ich weiß nichts. Mutti lässt mich nicht weder über ihn sprechen, noch um ihn zu fragen. Tante Sara sagt, dass das ein aufrichtiger Mensch ist.
PSYCHOLOGIN: Magst du Tante Sara ?
TOCHTER: Mutter lässt mich nicht über ihn sprechen oder Fragen über ihn stellen.
PSYCHOLOGIN: Warum ?
TOCHER: Weil mich Tante Sara gegen sie und den Vater aufhetzen möchte. Sie sagt, unser Haus sei ein...Sarg.
PSYCHOLOGIN: Und was denkst du ?
TOCHTER: Ich weiß selbst nichts.
PSYCHOLOGIN: Fehlt dir hier an etwas ?
TOCHTER: Was weiß ich...
PSYCHOLOGIN: Warum hast du das Frühstück hinter das Fenster gestellt ?
TOCHTER: Woher wissen Sie das ?
PSYCHOLOGIN: Ich sah es auf dem Weg hierher.
TOCHTER: Ich mag nicht essen. Ich will nicht.
PSYCHOLOGIN: Man muss essen.
TOCHTER: Ich kann nicht. Mutter zwingt mich dazu. Aber wenn sie nicht da ist, dann esse ich nicht.
PSYCHOLOGIN: Die Mutter will nur Gutes für dich.
TOCHTER: Ich weiß. Deswegen zwingt sie mich dazu, aber ich kotze das sowieso wieder aus.
PSYCHOLOGIN: Was ?
TOCHTER: Ich kotze das immer aus. Weil ich dort etwas habe, unter dem Herzen, ich habe ihn – er ist schon lange tot, er ist am Verfaulen und ich kotze ihn aus.
PSYCHOLOGIN: Wen ?
TOCHTER: Den Vater. Er ist tot, aber das sagte ich ja bereits.
PSYCHOLOGIN: Weiß die Mutter davon ?
TOCHTER: Wovon ? Dass ich ihn auskotze ?
PSYCHOLOGIN: Ja.
TOCHTER: Sie weiß....Und es ist ihr unangenehm. Aber ich kann nicht anders. Ich habe ihn geschluckt – und jetzt sitzt er dort- und ich kann ihn fortwährend nicht zu Ende auskotzen.
PSYCHOLOGIN: Liebst du ihn ?
TOCHTER: Wen ?
PSYCHOLOGIN: Na, den ersten Vater – wie nennst du ihn...
TOCHTER: Es ist nicht leicht jemanden zu lieben, den man niemals gesehen hat, nicht wahr ? Aber ich kenne ihn besser als ganz gleich wer. Er ist stets in meinem Leben anwesend. Für Mutter ist das ein Mythos – ich möchte ihr diese Mythen nicht wegnehmen. Er ist ihr Leben. Der Inhalt ihres Lebens.
PSYCHOLOGIN: Und du ?
TOCHTER: Glaube, dass ich es auch bin – aber nur in dem Grad, in dem ich ihn leben lasse...nur soweit wie sie ihn in mir sieht.
PSYCHOLOGIN: Also liebst du ihn ?
TOCHTER: Es ist schwierig es mit einem Mythos aufzunehmen.
PSYCHOLOGIN: Deine Worte sind sehr klug für dein Alter....
TOCHTER: ...Alter ? Mutter stellt ihn als Muster dar, wenn ich schon Blut aus seinem Blut, Knochen aus seinen Knochen sein soll, dann darf ich nicht dumm sein.
PSYCHOLOGIN: Du bist doch aber nicht Blut aus seinem Blut....
TOCHTER: Ich weiß selbst nicht mehr, wer ich bin. Verstehen Sie das ? Manchmal habe ich das Gefühl, als wäre mein Leben Literatur, als hätte die Mutter aus mir einen Protagonisten ihres oder seines Romans gemacht. Denken Sie, dass Mutter mir Schaden zufügt ?
PSYCHOLOGIN: Liebst du ihn ?
TOCHTER: Als ich klein war, erzählte mir Mutter eine schön Geschichte, eigentlich eine Kindergeschichte – über ihn. Weil sehen Sie, als sie zusammen wohnten, dort...
PSYCHOLOGIN: In Berlin.
TOCHTER: Sie wissen viel. Woher wissen Sie das ?
PSYCHOLOGIN: Ich weiß es einfach. Egal woher.
TOCHTER: Als sie dort wohnten und ihre Finanznot schrecklich war, hatten sie kein Geld. Es kam vor, dass Mutter für ihn das Mittagsessen über einer Kerze kochen musste...
PSYCHOLOGIN: Glaubst du daran ?
TOCHTER: An irgendetwas muss man ja glauben Eines Tages trafen sie im Park ein weinendes kleines Mädchen. Vater fragte, was denn passiert sei. “Ich habe meine Puppe verloren” - antwortete das Mädchen. Vater sagte ihr dann, dass die Puppe eine Reise machte. Das Mädchen fragte: „Woher wissen Sie das ?” „Aus dem Brief, den ich von ihr bekommen habe” – antwortete er. Dann fragte sie, ob er den Brief dabei habe. Ob er ihn zeigen könne. Er versprach, den Brief am nächsten Tag mitzubringen. Vater kehrte heim und fing den Brief zu schreiben an. Mutter erzählte, dass er den Brief mit dem gleichen Eifer schrieb wie seine anderen Texte. Es war für ihn wie jede andere richtige Arbeit. Er wollte das Mädchen nicht betrügen, sondern mit Hilfe der Fiktion die Lüge in die Wahrheit umwandeln.
PSYCHOLOGIN: Das muss ein wunderbarer Mensch gewesen sein.
TOCHTER: Das war noch nicht das Ende. Das Mädchen konnte nicht lesen, also las Vater ihr den Brief der Puppe vor. Diese stellte fest, dass ihr das Leben in ein und derselben Familie langweilig geworden sei, und sie Lust hätte, sich zu erholen. Sie versicherte auch, dass sie das Mädchen sehr gern hätte, und dass sie jeden Tag schreiben würde.
PSYCHOLOGIN: Schrieb sie ?
TOCHTER: Sie schrieb. Mit der Hilfe des Vaters. Jeden Tag beschrieb sie neue Abenteuer. Nach ein paar Tagen vergaß das Mädchen den Verlust der Puppe und fing an, an die Fiktion zu glauben. Die Puppe wurde größer, ging zur Schule, lernte neue Leute kennen. Das dauerte so ungefähr drei Wochen, bis der Vater sie verheiratete. Zuerst beschrieb sie einen jungen Mann, die Verlobung, die Hochzeitsvorbereitungen, später, sehr ausführlich, das Haus des jungen Paares: „Du weißt ja selbst, dass wir uns jetzt nicht mehr sehen werden”. Er löste das Problem des Mädchens dank seines Talents und seiner Liebe...Er führte in die Welt dieses Kindes Ordnung ein.
PSYCHOLOGE: Und in deine Welt ?
TOCHTER: In meine ? Das wissen Sie besser als ich. Ich kenne mich damit nicht aus.
PSYCHOLOGE: Liebst du ihn ?
TOCHTER: Ich hatte keine Puppen....Ich hatte ihn. Er war immer neben mir. So nahe, wie Tote es nur sein können.
PSYCHOLOGE: Er starb für dich.
TOCHTER: Für mich...Für mich existiert er dank seiner Leblosigkeit, dank seines Todes...er nährt sich von der Mutter, nur ich habe ihn in lebloser Gestalt verzehrt. Einzig ich hatte den Mut ihn zu essen.
PSYCHOLOGE: Liebst du ihn ?
TOCHTER: Ich ? Ich habe...Angst vor ihm.
PSYCHOLOGE: Aber liebst du ihn ?
TOCHTER: Ich kann nicht lieben. Wissen sie, dass er....an Hunger gestorben ist ?
DRITTE SZENE
SIE liegt auf dem Boden. Leblos. TOCHTER kniet neben IHR, wahnsinnig aus Verzweiflung.
TOCHTER: Und ich...dachte, dass du mich nicht zurücklässt...ich glaubte dir. Sogar, als du nicht schlucken konntest – ich sagte mir: er wird gesund, weil er für mich leben möchte, und als du nicht sprechen konntest und auf kleinen Kärtchen schriebest, damit ich dir die Hand auf die Stirn legte, um dir Mut zu machen – ich sagte: er wird es schon schaffen, er ist stark. Er wird mich doch nicht so verlassen. Ich sah, dass du die Blumen beneidetest, weil sie Wasser trinken konnten...Ich konnte dir nicht helfen. Ich wollte, aber ich konnte nicht. Ich wollte dich bei diesem Prozess vertreten. Ich war es, die auf das Urteil wartete. Um zu springen. Ich wollte dich schützen, dich mit mir bedecken, als wir dich zum Sanatorium fuhren, und das Auto kein Verdeck hatte. Es war bitter kalt. Es regnete in Strömen. Ein monströser Wind wehte. Ich fürchtete, dass die Reise dich töten würde. Ich stand also im Wagen auf und versuchte deinen Körper zu verdecken, mit mir zu bedecken. Das Auto fuhr, du warst halbbewusst, durchgefroren, und ich stand und hielt den Regen auf mir auf. Ich war mir sicher, dass es mir gelingen wird, dich zu retten, Liebster. Und später wurden die Schmerzen immer schlimmer. Die Ärzte linderten sie mit Pantopon und Morphin. Sogar als du Spritzen in den Kehlkopf bekamst, habe ich die Hoffnung nicht verloren, dass du noch heil daraus rauskommst. Bis ich eines Nachts vor dem Fenster eine Eule, die angeblich der Todesvogel ist, bemerkte. Und ebenso am nächsten Tag. Und am nächsten. Erinnerst du dich daran, wie wir unsere Hände in der Wasserschüssel nass machten ? Ich nannte das unser Familienbad. Als der Professor sagte, dass er eine Besserung des Kehlkopfes sehe und du zu weinen anfingst, begann ich wieder fest daran zu glauben, dass du siegen würdest. An Dienstag erinnere ich mich, als wäre alles heute passiert. Damals bin ich gestorben. Dann transportierten sie dich in einem zugelötetem Sarg, wie eine Konserve. Ich war leblos, aber ununterbrochen hörte ich deine Worte – die, die du dem Doktor sagtest: “Töten Sie mich, sonst sind Sie ein Mörder”. Aber er konnte das nicht tun. Als du dort lagst, schrie ich, damit sie dich bedeckten, weil dir doch kalt ist, du frierst dort...Ich hatte dich nicht in dieser Dunkelheit lassen sollen. Weiter kann ich mich an nichts mehr erinnern. Man sagt, ich hätte mich nach dem Sarg geworfen, dass ich in das Grab springen wollte. Ich kann mich an nichts erinnern. An nichts. Von diesem Moment an erinnere ich mich an nichts. Ich bin gestorben.
Verdunkelung
VIERTE SZENE
Stimmen aus dem Radio.
PSYCHOLOGIN: Ein Mensch war für ihn von gleichem Interesse wie für einen Wissenschaftler. Er brauchte ihn als ein Untersuchungsobjekt, der sein Wissensvermögen erweiterte. Er war gerade dabei eine Autopsie durchzuführen – kalt, praktisch, und mit einer sicheren Hand operierend. Er übte sich an den Leuten ein, und das Schreiben bestand darin, das Material zu ordnen, auszuwählen. Von dieser Seite gesehen war sein literarisches Schaffen Arbeit in der Prosektur.
JOURNALIST: Und deswegen konnte er sein Werk nicht in einem solchen Zustand zurücklassen. Er konnte die Forschungen, die ihn zur Lösung der sich selbst gestellten Aufgabe führen sollten, nicht beenden. Deren Hauptziel war es, helles Licht auf die Welt, in ihrer unveränderlichen, ewigen Gestalt, zu werfen.
PSYCHOLOGIN: Man kann nicht als Konklusion einen nackten, geöffneten und auf dem Tisch des Prosektursaals liegenden Körper mit herausgenommenen Eingeweiden präsentieren. Man kann so etwas nicht als eigenes Arbeitsergebnis stehen lassen. Wenn er schon die Forschungen nicht mehr fortsetzen konnte, so war es besser, dass diese, nicht zu Ende geführte, Arbeit niemals das Tageslicht erblickt. Es wäre besser keine Zeugen zu haben. Es ist schon schrecklich genug, dass die Hilflosigkeit einem das ganze Leben lang auf den Armen lastet wie ein Grabstein.
(Glenn Miller's Musik)
JOURNALIST: Gestern Abend fand man in einem Vorstadthaus die Leiche einer 50-jährigen Frau. Die durch die Nachbarn benachrichtigte Polizei brach die Tür auf. Die Leiche der Frau war schon am Verwesen. Die ersten Indizien lassen darauf schließen, dass sie sich zu Tode gehungert hatte. Die Nachbarn meinen, sie hätte unter Schizophrenie gelitten. Die letzten dreißig Jahre lebte sie allein.
Warschau, April 2003